Rippe, Block … Hauptsache ein Boulder
Wir stehen vor dem SW-Riss, IV, am Förster im kalten Wind.
Agnes schaut mich zweifelnd an: "… und du meinst, ich kann das?"
"Ja klar." sage ich und versuche hinreichend überzeugend zu klingen – angesichts des steil aufragenden Risses in der SW-Seite des Gipfels bin ich mir da auch nicht mehr so ganz sicher.
Ich versuche mich in Motivation: "Agnes, du kletterst in der Halle bis VII+/ VIII-! Das hier ist gerade mal eine Vier und die Schlüsselstelle ist gleich hier unten," ergänze ich und zeige auf eine Rippe am Einstieg, "wenn du die geschafft hast, ist der Rest dann einfach. Außerdem liegen da gute Schlingen und das rote Ufo."
Sie schaut noch immer zweifelnd, beginnt jedoch, ihre Schlingensortiment aus dem Rucksack zu räumen. Ich fische eine 6-er-Rundschlinge aus dem Bündel und beäuge den Rest der Schlingen argwöhnisch. "Die kannst du dir sparen," erkläre ich, "die hält keinen Vorstiegssturz. Zu dünn."
Agnes nickt ergeben und sortiert Knoten, Ufos, akribisch geflochtene Bandschlingen, Exen und Karabiner sorgfältig an den Gurt. Mit skeptischer Todesverachtung klettert sie auf einen Vorblock, wo ihr Sebastian am Standplatz fürsorglich das scharfe Seilende reicht.
Jetzt eher mit einem Ausdruck wilder Entschlossenheit bindet sie sich ein, zieht ihre lila Wollmütze zurecht und geht zum Einstieg des Weges. Zwei zögerliche Züge, dann steht sie auf einem kleinen Absatz vor der Rippe.
"Also ein Ufo liegt hier?" vergewissert sie sich nach unten.
"Ja!" rufen Sebastian und ich unisono in Richtung Rippe.
Agnes fummelt eine Weile an ihrem Gurt, zieht schließlich das rote Kugel-Ufo hervor und platziert es im Riss am unteren Ende der Rippe. Sie sieht zufrieden aus und greift nach der Rippe.
"Scheiße, die zieht nur nach rechts!", ruft sie erschrocken und lässt sich zurück auf den Absatz sinken.
"Ja, das ist die Schlüsselstelle!", ermuntere ich sie und ergänze: "Da musst du mal die Rippe nehmen, links – ähm rechts – im Schwarzen gibt es einen Henkel und auf Reibung antreten.
Sie inspiziert das "Schwarze": "Ich sehe keinen Henkel?! Bestimmt bin ich zu klein."
Ich rolle die Augen.
Sie versucht es noch einmal mit beiden Händen an Rippe. Beherzt tritt sie mit links in eine winzige Delle, zieht das rechte Bein davor, löst die rechte Hand und fuchtelt mit dieser wild oberhalb der Rippe herum.
Soweit ich mich erinnere, gibt es dort keinen Griff. Ich starre gebannt auf die Szene und hoffe, das Ufo liegt wirklich gut.
Agens rutscht auf den Absatz zurück. Dort zieht sie eine Schlinge vom Gurt und beginnt sie auf Brusthöhe neben die Rippe zu stopfen. Als das Seil eingeklippt ist, ein neuer Anlauf.
Linker Fuß in die Delle, rechter Fuß irgendwie davor, Gefuchtel mit dem rechten Arm, zurück auf den Absatz.
Wir ermuntern sie mit klugen Ratschlägen:
"Rechts muss aber ein Henkel sein!", rufe ich.
"Du musst die Hand klemmen!", ruft Sebastian.
Agnes schnappt sich die Rippe, Füße in die Startposition (ich überlege, ob ich mir diese Lösung tatsächlich merken soll …). Dann Stillstand: Ganze zwei Minuten verharrt sie mit Füßen und durchblockierten Armen an der Rippe – mir fällt der Spruch von Adam Ondra ein: "In den meisten Routen ist es besser, man hat zu viel Kraft als zu wenig." Definitiv, der Mann hat Recht!
Dann ein Ruck, sie löst den linken Fuß, setzt ihn rechts nach oben und schnappt mit der linken Hand weiter hinten einen Griff. Dann steht sie auf der Rippe. Wir freuen uns, Agnes schnauft.
"… und jetzt?", fragt sie und schaut nach oben.
"Jetzt kommt einfacher Kamin!", rufe ich durch den Wind. Sebastian nickt, denn dem ist nun wirklich nichts hinzuzufügen, dann zieht er sich die Handschuhe an.
"… und der Block?" Agnes deutet auf einen Block, der über ihrem Kopf aus dem Kamin ragt.
"Ja, da musst du drauf und es liegt dort eine super Schlinge."
Agnes steht etwas ratlos im Kamin, fasst sich dann ein Herz und versucht einen Fuß an der Kaminwand zu platzieren.
"Ja!!!", rufen Sebastian und ich begeistert. "Genau so!"
Unsere Freude war verfrüht, der Fuß wandert zurück auf die Rippe. Der andere Fuß wird an die Kaminwand gestellt. Immerhin.
"Ja!!!", rufen wir wieder, "Nimm die Tritte an der Wand." ergänze ich.
Agnes schiebt sich ein Stückchen höher. Der Block im Kamin kommt näher.
Plötzlich dreht sie sich und schnappt sich das vordere Ende vom Block mit beiden Armen. Irgendwie sieht es aus, als würde sie den Block umarmen.
"Nein!!!", rufen wir entsetzt. "Du musst das als Kamin klettern."
"Versuche ich doch.", kommt schnaufend zurück.
Ich schaue zweifelnd auf das Bild. Kaminklettern sieht eindeutig anders aus. Sebastian schaut ebenfalls kritisch und kommt wohl zu dem gleichen Ergebnis.
Wir überbieten uns nun mit guten Tipps:
"Fuß nach hinten, in den kleinen Absatz!"
"Nein, linken Fuß auf die abgelatschte Stelle vor dir!"
"Fuß höher!", "Fuß mehr nach rechts!", "Stützen, Stützen!" "Hinten ist ein Band!"
Agnes dreht sich zurück und lehnt mit dem Rücken an der Kaminwand, um zu verschnaufen. Wir sind begeistert: Kaminposition!
Doch sie nutzt das lediglich, um kurz Kraft zu sammeln. Dann wieder der "Frontalangriff".
Och nein, nicht zu fassen! Wieder schnappt sie sich den Block.
Schlingen schleudern wild am Gurt umher. Das rechte Bein rudert an der Kaminwand entlang.
Mit aufgerissenen Augen verfolge ich die Anstrengung, auf den Block zu kommen. Mein Händi, mit dem ich gerade noch Bilder machen wollte, lasse ich nach unten sinken. Jetzt hoffe ich irgendwie sehr, dass das Ufo und die Zweitschlinge gut gelegt sind!
Dann hat es Anges geschafft, das rechte Bein zwischen Körper und Block zu schieben.
Nun rudert das linke Bein an der Kaminwand.
Noch immer hält sie den Block fest umklammert. Ich hüpfe aufgeregt auf und ab. Sebastian umklammert das Tube, als könne er dadurch Agnes nach oben schieben.
Endlos vergehen die Sekunden, dann ein letzter Tritt in Richtung Kaminwand und auch das linke Bein schiebt sich auf den Block. Agnes richtet sich auf, ihre Mütze ist verschwunden (Mützen-Fusselschlinge?) und ich hole wieder Luft. An dem Punkt komme ich zu der Erkenntnis, dass sich an dieser Stelle der Boulderer unter uns astrein geoutet hat.
Nun allerdings bin ich etwas zurückhaltender mit meinen Ankündigungen der Art: "Das Schlimmste ist geschafft …", denn es kommt noch ein weiterer "interessanter" Kamin.
Doch meine Befürchtungen sind unbegründet. Ein paar Minuten lang sieht man Hände und Füße in verschiedenen Positionen am Kamin. Dann baut sie sich einen Stand und beschließt, ab dort nachzusteigen – 15m "feinste sächsische Kletterei" in der Tasche ;)
* * *
Ich mache mich startklar, steige in den Weg ein und ziehe an der Rippe über dem Ufo doch tatsächlich eine 6-er-Schlinge aus dem Riss!
Meine Güte: Die hatte ich dann wohl übersehen.