Ich stehe vor meinem Vorstiegsprojekt. Eine III. Eine Rissverschneidung: Der Südriss am Sonnenwendstein. Er sieht ziemlich beeindruckend, ziemlich steil und ziemlich sächsisch aus. Das zumindest meint mein Seilpartner.
Vor einem halben Jahr habe ich mit dem Klettern begonnen. Mittlerweile habe ich gelernt, dass die Formulierung "Es sieht sächsisch aus." so ziemlich alles bedeuten kann – nur eines bedeutet sie mit Sicherheit nicht: "leicht".
Vor mir steigt ein Knirps von vielleicht 10 Jahren den Riss hoch – im Vorstieg. Sein Vater sichert und schaut zufrieden und entspannt zu seinem Sohn. Dieser legt in schönster Ruhe mindestens alle 2 Meter eine Schlinge, ruft dabei regelmäßig zu seinem Vater runter "Liegt gut!" und steigt weiter. Als er nach einiger Zeit oben angekommen ist, zähle ich wenigstens neun Schlingen (die "gut liegen"). Etwas beruhigt beginne ich mein nagelneu erworbenes Schlingensortiment am Gurt zu sortieren –ich habe zwölf Schlingen, davon eine aus zweifelhafter Herkunft (ich habe sie gefunden), neun Exen und zwei Karabiner. Das sollte also reichen. Der Vater steigt seinem Sohn nach und als er oben angekommen ist, steige ich in den Weg ein.
Es ist genau so steil, wie es aussieht. Gefühlt eigentlich noch steiler. Nach drei Zügen klemmt meine linke Hand irgendwie im Riss und ich stehe praktisch im Spagat – weitgehend handlungsunfähig. Eigentlich könnte ich jetzt eine Schlinge legen und zwar genau dort, wo meine Hand klemmt. Ich versuche mit der rechten Hand eine passende Schlinge zu finden. Ich fummle am Gurt herum und habe schließlich einen Knoten in der Hand. Vorsichtig bewege ich meinen Kopf und schiele auf die Schlinge: Viel zu klein stelle ich fest und werfe sie mir über den Kopf.
Nächste Schlinge: Auch zu klein. Noch ein Versuch: Die Schlinge sieht gut aus. Also Schlinge zwischen die Zähne, rechte Hand an eine kleine Leiste, linke Hand aus dem Riss heraus und damit die Schlinge aus dem Mund. Ich stopfe sie mit links in den Riss: Zu groß. Meine recht Hand wird müde, mein Sicherungsmann unruhig: "Geh doch einfach weiter! Weiter oben stehst du besser!", ruft er. Er hat vermutlich Recht. Ich werfe die Schlinge über den Kopf zu den anderen und klemme die linke Hand wieder in den Riss. "Zurück auf 'Los'.", denke ich und versuche meine Füße irgendwie höher zu stellen. Nach einigen Versuchen gelingt es mir. Ich stehe jetzt zwei Meter weiter oben, nun klemmt die rechte Hand und dieses Mal versuche ich, eine Bandschlinge auf einer Zacke anzubringen. Weder Zacke noch Schlinge verstehen, was ich von ihnen will. Die Schlinge rutscht permanent runter und ich gebe schließlich entnervt auf.
Ich steige weitere zwei Meter nach oben und suche Riss und Wände nach Schlingenpositionen ab. Mir fällt beim besten Willen nicht ein, wo ich hier einen Knoten unterbringen könnte. Mein Sicherungsmann brüllt nach oben: "Nun leg doch endlich mal was!".
"Klugscheißer!", denke ich und steige noch ein Stück höher. Endlich weitet sich der Riss und ich sehe einen kleinen Block darin. Ich freue mich, werfe meine längste Bandschlinge darüber. Sie bleibt liegen! Exe rein, Seil eingeklippt – wunderbar. Die nächsten Züge laufen wie am Schnürchen. Dann beginnt die Suche erneut. Spalte zu schmal, viel zu schmal, ganz schmal, Spalte zu groß, Platte zu rund. "Hier liegt einfach nichts!", denke ich mit einem Anflug von Panik angesichts der mittelweile luftigen Höhe von bestimmt 15m mit exakt einer Schlinge etwa 5m unter mir.
Langsam beginne ich das Kind zu beneiden, der mit traumwandlerischer Sicherheit den Riss mit Knoten zugepflastert hat. Das Wort "Sportklettern" kommt mir in den Sinn, während ich noch ein Stück höher gehe. Noch immer finde ich keine weitere Schlinge … naja, mit einiger Mühe platziere ich jetzt einen der dickeren Knoten hinter einer fragwürdigen Rippe. Dann kommt schon der Ausstiegskamin. Die Suche nach weiteren Schlinge habe ich jetzt aufgegeben. Noch zwei Züge und ich bin oben.
Oben sitzen Vater und Sohn mit dem Gipfelbuch in der Hand. Sie schauen mich freundlich an: "Geiler Weg – oder?"
Ich bin mit den Nerven durch und nicke: "Ja, geiler Weg." brumme ich und lasse mich auf den Felsen sinken. Dann baue ich einen Standplatz und hole meinen Sicherungsmann nach. Dieser kommt mit einem fetten Grinsen oben an.
"Sophie, nur zwei Schlingen! Bis du irre? Der Block war übrigens lose … warum hast du nicht den Knoten daneben gelegt?"
Vater und Sohn schauen zu mir und warten gespannt auf meine Antwort. Die Antwort hätte ich allerdings selbst gern. Also zucke ich ergeben mit den Schultern: "Den Knoten habe ich mir für weiter oben aufgehoben?"
Das Grinsen meines Nachsteigers wird noch breiter: "Für die hohle Rippe?" fragt er jetzt. Vater und Sohn schauen jetzt noch interessierter, ich kneife die Augen zusammen und schaue ihn böse an.
Der Sohn nickt ernst und meint schließlich: "Naja, das Schlingenlegen muss man halt etwas üben." Da hat er wohl nicht ganz Unrecht und starre auf seinen Gurt.
"Was ist das denn?", ich deute auf eine sehr dünne, hübsch violett glänzende Schlinge, die in seiner Materialschlaufe baumelt: sehr schmal! Die hätte ich gerade gut gebrauchen können.
"Eine K e v l a r ..." meint das Kind, zieht das Wort dabei in die Länge und guckt mich skeptisch an und zwar so skeptisch, dass ich zum Schluss komme, "eine K E V L AAAA R" hätte ich kennen sollen. Daher nicke ich schnell wissend: "Stimmt." und ergänze noch wenig geistreich: "In der Farbe habe ich sie noch nie gesehen …" Der Junge schaut jetzt noch misstrauischer und mir wird mal wieder klar: Ich bin wirklich ein Anfänger!
Als ich wenig später zur Abseilöse gehe, beschließe ich, mich beim Schlingenkurs anzumelden. Den Rest des Tages steige ich nach: Sicher ist sicher.